Demokratieforschung mit zivilgesellschaftlichen Mitteln

Bund-Länder-Europa Treffen gegen Rechtsextremismus am 14. Mai 2018

Das Bund-Länder-Europa-Treffen fand am 14.5. von 11.30 – 15.30 Uhr im Deutschen Bundestag statt [Einladung lesen].

Protokoll

Was kommt nach dem Verfassungsschutz? Diese Frage tauchte im Zuge der NSU-Untersuchungsausschüsse in den Parlamenten immer wieder auf.

Die Ämter für Verfassungsschutz arbeiten weiter, erhalten sogar mehr Mittel als zuvor. Aber seit 2016 gibt es mit dem "Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft – Thüringer Dokumentations- und Forschungsstelle gegen Menschenfeindlichkeit" (IDZ) eine Organisation, die aufzeigt, wie Demokratieforschung besser funktionieren sollte: öffentlich, menschenrechtsorientiert und mit zivilgesellschaftlicher Expertise. Das IDZ arbeitet in Trägerschaft der Amadeu Antonio Stiftung und wird von der rot-rot-grünen Regierung in Thüringen gefördert. Es bringt Werte und Blickwinkel aus den Bürgerrechtsbewegungen und Informationen über Entstehung und Folgen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in die öffentliche Debatte ein. Dabei baut es auf eine breite Zusammenarbeit, u.a. mit Opferberatung, mobiler Beratung, Polizei und Bildungsträgern. Zu den Forschungsschwerpunkten gehören Protestbewegungen, Diskriminierung, Hassaktivitäten, Rechtspopulismus, Rechtsextremismus.

Referent Dr. Matthias Quent erläutert Forschungsergebnisse und Thesen des IDZ zur aktuellen politischen Stimmungslage in Deutschland. Er legt dar, dass sich 50 Jahre nach der gesellschaftlichen Umwälzung der 68er ein Gegenprotest formiert hat. Milieus, die einst kulturell in Westeuropa vorherrschend waren, reagieren wütend auf die Erosion ihres Status und den befürchteten Wegfall wirtschaftlicher Errungenschaften. Diese "Backlash-Politik" zielt darauf ab, die Richtung des Wandels politisch umzukehren oder zumindest einzudämmen, um selbst wieder mehr Bedeutung, Macht und Einfluss zu gewinnen.

Als zentrale Motive benennt Quent hierbei

a) ein nationalautoritäres Motiv: Frust-Gefühl "Das ist nicht mehr mein Land". Narrativ von der "Herrschaft des Unrechts" durch "Masseneinwanderung", hohe Anschlussfähigkeit in konservativen Milieus; über das Angstszenario des totalen "Staatsversagens" auch Schnittstellen mit dem Rechtsextremismus.

b) ein sexistisches Motiv: Männer sind nicht mehr automatisch "per Biologie" privilegiert.

c) Soziales, ethnisierendes Motiv: soziale Neiddebatten, dass Menschen mit Migrationshintergrund angeblich mehr Vorteile würden (z.B. finanzielle Zuwendungen) genießen als "arme Deutsche".

d) kulturell-identitäres Motiv: ist teilweise neorassistisch geprägt, betrifft nicht in erster Linie Jugendliche, sondern die Mitte der Gesellschaft.

e) völkisches Motiv: baut auf rechtsextreme Ideologie mit der Phantasie, dass durch "Fremdstämmige" das "deutsche Selbstbestimmungsrecht" verloren gehe. Hier wirken auch Medien wie Compact mobilisierend.

Quent bezeichnet diese rassistische Bewegung als "Unzivilgesellschaft". Er beschreibt sie als programmatisch inkohärent, nicht für Sachargumente zugänglich, stark hierarchisch organisiert und von einer nur dünnen Personaldecke getragen.

Die "Unzivilgesellschaft" betreibt Täter-Opfer-Umkehr, sie rechtfertigt ihren teils hasserfüllten und auch gewaltbereiten Widerstand als "Notwehr" und distanziert sich vor diesem Hintergrund verbal von Gewalt.

Die Grünen beschreibt Quent als den natürlichen Gegenpart zur antiliberalen, antipluralistischen und antidemokratischen "Unzivilgesellschaft". Insofern konkurrieren Grüne und AfD in besonderem Maße um eine öffentliche Deutungshegemonie.

In seinen Schlussfolgerungen ermutigt Quent, indem er den "Backlash" als verzweifelten Abwehrkampf benennt, der sich aus den enttäuschten Erwartungen von NationalistInnen, RassistInnen und SexistInnen speist. Dieser Abwehrkampf bezeugt die Fortschritte in der gesellschaftlichen Entwicklung, nicht die Fehler. Seine  Empfehlung lautet daher: Nicht in die Defensive oder zu symbolpolitischer Repression drängen lassen, sondern Kurs halten! Dazu gilt es, Rassismus weiterhin beim Namen zu nennen, die demokratische Zivilgesellschaft zu unterstützen, auch durch finanzielle Verstetigung von Fördermaßnahmen und Betroffene von Hasskriminalität und Diskriminierung zu stärken, u.a. durch eine echte Hatecrime-Erfassung.

Mehr über das Profil und die Arbeit des IDZ kann in der Präsentation des Referenten Dr. Matthias Quent nachgelesen werden.

Dem Vortrag folgte eine angeregte Diskussion.

Austausch gab es unter anderem darüber, wie man eigene politische Positionen einerseits stabil halten, aber andererseits mit klugen differenzierteren Antworten und Dialogangeboten auf Unschlüssige zugehen kann. Denn eine Partei findet mehr Chancen zur Umsetzung ihrer Inhalte, wenn sie gewählt wird.

Im Werben um WählerInnen werden Grüne immer wieder mit Scheindebatten zu einem vermeintlichen "Linksextremismus" konfrontiert. Hier gilt es, das als Rechtfertigungsmechanismus zu entlarven und klarzustellen, wo die bundesweiten Probleme liegen: bei strukturellem Rassismus, rechter Gewalt und Rechtspopulismus. Es wird grüne Aufgabe bleiben, korrigierend in hegemoniale Strukturen einzugreifen. Das schließt die grüne Kritik z.B. am Verfassungsschutz ein. Ein Institut für Demokratieforschung auf Bundesebene wäre hierzu eine Forderung, die wieder verstärkt vorgebracht werden könnte.

Die Bundesprogramme gegen rechts "Demokratie leben" im Familienministerium und "Zusammenhalt durch Teilhabe" im Innenministerium werden kritisch beleuchtet. Es besteht der Eindruck, dass die Bundesregierung sich mit den Programmen "freikauft", um sich den größeren Problemen mit strukturellem Rassismus nicht stellen zu müssen. Zudem kommen bei der Förderung kleine, unabhängige Projekte fast gar nicht mehr zum Zuge, es werden etablierte und angepasste Träger gefördert. Auch wenn die "Extremismusklausel" offiziell dem Namen nach abgeschafft wurde, ist ihr Inhalt in den Förderleitlinien weiterhin aktiv. In Form eines Begleitschreibens sind die Initiativen noch immer genötigt, sich nicht nur zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu bekennen (was bei demokratischen Projekten eine Selbstverständlichkeit ist), sondern auch die Gesinnung ihrer Partner auszuspionieren. In solche Prüfverfahren kann auch seitens des Ministeriums der Verfassungsschutz einbezogen werden, was wir politisch nicht akzeptieren. Dieses Begleitschreiben wird damit gerade für alternative, kleine Initiativen oft zum Ausschlusskriterium.

Die "Extremismustheorie" zu ersetzen, ist bisher weder in der Bundesförderung noch in der öffentlichen Debatte gelungen. Auch das IDZ konnte in den Behörden hierzu kein Umsteuern erreichen. Es wird empfohlen, in der Beschreibung von Trends und Straftaten nicht mehr die Begriffe "Rechtsextremismus" und "Linksextremismus" zu nutzen, sondern den menschenrechtsbasierten Begriff des "Hate Crime". Damit rücken Aspekte von Minderheitenschutz und rechtstaatliche Prinzipien in den Fokus und nicht mehr ideologische Rechts-Links-Debatten.

Viele bewegte die Frage, wie man Menschen neu ansprechen kann, die bisher nicht in konstruktiver und demokratischer Weise in die politische Debatte einbezogen sind. In der Frage der Erwachsenenbildung etwa braucht es neue Formate und Möglichkeiten, da proaktiv nur diejenigen, die ohnehin politisch interessiert sind, an Bildungsveranstaltungen teilnehmen. Quent regt an, neben den klassischen Bildungsträgern auch die Gewerkschaften und die Kirchen mehr mit einzubeziehen. Diese sind vor allem in Westdeutschland recht gut in die Bevölkerung hinein vernetzt und zahlenmäßig gibt es in den westlichen Regionen Deutschlands sogar mehr AfD-WählerInnen als im Osten.

Im Zusammenhang mit der Ansprechbarkeit von Unschlüssigen wurde darauf hingewiesen, dass Grüne die ländlichen Räume nicht aufgeben dürfen. Trotz der bekannten Schwierigkeiten, etwa durch wenige grüne Aktive vor Ort, weite Fahrtstrecken oder abstruse bürokratische Hürden, z.B. beim Hängen von Wahlplakaten, ist es sehr wichtig, als regionale Partner wahrgenommen zu werden. Dazu kann es helfen, neue Bündnispartner zu finden und die Kräfte zu bündeln, was mancherorts durch die lokalen Partnerschaften für Demokratie immerhin vorangebracht wurde. Es sind lokale Akteure an einen Tisch gekommen, die zuvor nicht miteinander sprachen. Das ist als Teilerfolg zu würdigen.

Die Werbung für demokratische Werte braucht mehr Reichweite. In der heutigen Zeit kann dies beispielsweise durch öffentliche Medien gelingen, die zwar nicht die rechtsextremen Lügenpresse-Rufer überzeugen, aber durchaus die Ambivalenten, welche die Mehrheit sind. Auch das Internet spielt eine wesentliche Rolle. Facebook als längst nicht mehr reines Jugendmedium kann mit genutzt werden. Es wurden Beobachtungen darüber ausgetauscht, wie im Netz miteinander umgegangen wird. So gibt es meist zwei Lager, eins krass pro AfD, ein anderes strikt dagegen. Dialog ist im Allgemeinen nicht möglich. Das ist aber auch nicht entscheidend. Bei solchen Gruppendynamiken "gewinnt" letztlich das radikalste Argument. Und diesem kann man ebenso entschieden begegnen mit Statements wie: Das ist Rassismus! Den Gegner mit dem geschlossenen rechtsextremen Weltbild kann und muss man damit nicht überzeugen. Es geht vielmehr um all diejenigen, die noch in der Meinungsbildung sind und mitlesen.

Im Netz tummeln sich auch die Identitären mit professionell gestalteten Onlinevideos, die Zehntausende erreichen, aber letztlich keine Massen mobilisieren können, da sie keine wirkliche Graswurzelbewegung widerspiegeln. Dennoch braucht es eine coole linke Gegenkultur; die demokratische Medienstruktur ist ausbaufähig.

Timo Reinfrank wies auf eine Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung über pädagogische Interventionen im Netz hin, die viele hilfreiche Tipps enthält: http://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/pressemitteilungen/digital-street-internet.pdf

Ideologische Scheindebatten gilt es zu entlarven. So versucht die Bundesregierung, Antisemitismus vor allem in Verbindung mit dem Islam darzustellen. Dass damit eine Islamfeindlichkeit geschürt wird, die letztlich dem rechten Lager in die Hände spielt, sollten Grüne stärker in der öffentlichen Debatte deutlich machen. Jegliches Ausspielen gesellschaftlich schwacher Gruppen / Minderheitengruppen befördert gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Dem müssen wir mit Solidaritätsbekundungen für die Betroffenen  und faktenbasierter Argumentation begegnen. Denn die Zahlen zeigen, dass die antisemitischen Straftaten überwiegend rechtsmotiviert sind. Der tatsächliche Antisemitismus aus muslimischen Staaten ist noch wenig erforscht. Und auch wenn es rechtsextremen Antisemitismus in massiver Form gibt, ist doch jener Antisemitismus, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt, noch viel problematischer. Gleiches gilt für die Islamfeindlichkeit. 

Nachdem in der Pause manch interessante Diskussion in Grüppchen weitergeführt wurde, folgten die Berichte aus den Ländern.

Monika Lazar erzählte, dass die AfD im Bundestag sich als eindeutig rechtsextrem geoutet und alle Vorurteile bestätigt hat. So wurde im Plenum vom "entarteten Doppelpass" oder einem vermeintlichen "Gleichstellungstotalitarismus" geschwafelt. Militante Sehnsüchte kamen in Statements zum Ausdruck wie: "Statt Gender und Gedöns brauchen wir Panzer, die fahren, Flugzeuge, die fliegen, und U-Boote, die tauchen." Scherzhaft merkte Monika Lazar an, dass die "Islamisierung des Bundestags" durch die AfD in einmaliger Weise vorangebracht wurde, da etwa der AfD-Abgeordnete Curio besonders gern den Koran zitiere.

Als erstes positives Fazit lässt sich sagen: Die RednerInnen aller demokratischen Fraktionen zeigen sich durchaus gut gewappnet, auch von Unionsseite. Es kommt mehr als früher zu überfraktionellem Applaus, auch wenn die unterschiedlichen parteipolitischen Standpunkte bestehen bleiben.

In den Ausschüssen arbeitet die AfD kaum inhaltlich und behandelt immer die gleichen Themen, besonders Flucht und Asyl sowie Verunglimpfung der demokratischen Kultur. In der grünen Fraktion hat sich ein differenzierter Umgang damit bewährt. Manchmal ist Empörung richtig, manchmal Sachargumentation oder auch Humor. Sowohl sachkompetent als auch humorvoll war die Rede des grünen Abgeordneten Erhard Grundl: https://www.youtube.com/watch?v=iuMffI-q_us 

Verbindlich muss sein, keine gemeinsamen Initiativen mit der AfD zu starten und auch keinen AfD-Anträgen zuzustimmen. Es kann vorkommen, dass die AfD ihrerseits grünen Anträgen zustimmt. Dies war neulich beim grünen Glyphosat-Antrag der Fall, den die AfD zu vereinnahmen versuchte mit dem Hinweis "Umweltschutz ist Heimatschutz". In solchen Fällen ist es am besten, sich nicht provozieren und derartige Vorstöße einfach ins Leere laufen zu lassen.

Abschließend kamen noch einige Hinweise auf aktuelle Initiativen der grünen Bundestagsfraktion.

Die Antwort auf die Kleine Anfrage "Gefahren durch rechtsterroristische Strukturen und rechte Militanz in Deutschland" steht noch aus.

Eine Kleine Anfrage zu "Ein Prozent" wurde nichtssagend beantwortet: http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/019/1901921.pdf

Wie die Bundesregierung aktuell die Reichsbürgerbewegung einschätzt, steht in ihrer Antwort von Ende Januar: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/005/1900539.pdf

Im Zuge der Debatte um die NPD-Parteienfinanzierung hat die grüne Bundestagsfraktion in einem Antrag aufgelistet, was es jenseits von Symboldebatten braucht, um Rechtsextremismus umfassend zu bekämpfen: http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/19/018/1901851.pdf