Streit um Zahl der Opfer geht weiter

Pressebericht, Leipziger Volkszeitung, 02.12.2011

von Maja Heinrich

Regierung hält an Statistik fest / Länder prüfen Altfälle

Berlin. Wer im Bundestag an das Rednerpult tritt, hat sich meist vorher  ein paar Sätze zurecht gelegt. Trotzdem räumt die Leipziger  Bundestagsabgeordnete Monika Lazar (Grüne) gleich zu Beginn ihrer  Redezeit ein: "Mir fehlen die Worte." Der Grund dafür sind die  Ausführungen des FDP-Innenpolitikers Hartfrid Wolff, welcher die  offizielle Statistik der Bundesregierung zu den Opferzahlen rechter  Gewalt seit der Deutschen Einheit mit scharfen Worten verteidigt.

Ausschlaggebend seien nur Gerichtsurteile. "Die Linken wollen  stattdessen ein Gesinnungs-Denunziantentum, das die Linke-Szene anhand  der rechtsextremen Straftaten hoffähig machen soll", sagt Wolff. Nur so  kämen Medien wie Die Zeit und der Tagesspiegel sowie Opferorganisationen  auf eine Zahl von über 100 Toten in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Es  gehe aber darum, "die gleichen Maßstäbe auf alle Gegner unserer  Verfassung anzuwenden". Lazar weist Wolffs Äußerungen als "unverantwortlich" zurück: "Sie lenken  von dem Problem ab und Sie verhöhnen die Opfer", sagt sie.  "Rechtspopulisten verschärfen das Problem. Und ihre Rede war ganz klar  in diese Richtung gehend." Regierung und Opposition streiten seit langem  über die statistische Erfassung von Todesopfern rechtsextremer Gewalt. Die Linke-Innenexpertin Petra Pau spricht von einer "gravierenden  Differenz" zwischen den offiziellen Angaben der Bundesregierung und den Zahlen, die nach Recherchen von Journalisten veröffentlicht wurden. Demnach gibt es seit 1990 insgesamt 138 Todesopfer. Mit den aktuell  bekanntgewordenen zehn Morden, die der Zwickauer Neonazi-Zelle  vorgeworfen werden, sind es sogar 148 Opfer. Die Bundesregierung geht  aktuell von 48 Todesopfern aus. "Wir haben offenbar eine gravierende  Fehlstelle in der offiziellen Wahrnehmung rechtsextremer Gewalt", sagt  Pau. Wenn aber die Analyse falsch sei, dann sei auch alles falsch, was  darauf fuße. "Ohne zutreffenden Befund gibt es keine richtige  Gegenstrategie." Die Linke fordert eine parteipolitisch unabhängige  Beobachtungsstelle für die Bereiche Rechtsextremismus, Antisemitismus  und Rassismus.

Innen-Staatssekretär Ole Schröder (CDU) erklärt in der Debatte, die  offiziellen Stellen hätten bis zum 31. Januar dieses Jahres 47  Todesopfer gezählt. Diese Zählung werde im kommenden Jahr um die Opfer  der Zwickauer Terrorzelle erweitert. Schröder betont, dass die Kriterien  für die Erfassung 2001 von der damaligen rot-grünen Bundesregierung mit  den Ländern vereinbart worden seien. Ausschlaggebend ist demnach das  Tatmotiv eines Täters - und nicht etwa, ob ein Täter als Rechtsextremist  bekannt ist. "Unabhängig von der Statistik ist jedes Opfer rechtsextremer Gewalt  eines zu viel", sagt Schröder. Es sei jedoch wichtig, "über Statistiken  dieses Phänomen zu beschreiben". SPD-Politiker Sönke Rix vermisst  Einsichtsfähigkeit in der Antwort der Regierung auf die Große Anfrage  der Linken. "Das wäre auch wichtig für die Angehörigen der Opfer gewesen." Immerhin will Sachsen-Anhalt sieben Tötungsdelikte neu überprüfen  lassen, die mutmaßlich von Rechtsextremisten begangen wurden und nicht  in der Statistik auftauchen. Auch Nordrhein-Westfalen hat Recherchen zu  einem Dreifachmord eines Neonazis aus dem Jahr 2000 angekündigt, der  ebenfalls nicht als rechtsmotiviertes Delikt geführt wird.

Hartfrid Wolff, FDP-Innenpolitiker: Die Linken wollen stattdessen ein Gesinnungs-Denunziantentum, das die Linke-Szene anhand der rechtsextremen Straftaten hoffähig machen soll.