Piraten streiten über Umgang mit rechtsextremen Äußerungen

Pressebericht, Der Tagesspiegel, 19.04.2012

Berliner Landeschef Semken zum Rücktritt aufgefordert

Von Karin Christmann, Matthias Meisner, Christian Tretbar

Prominente Berliner Piraten haben den Berliner Landesvorsitzenden der Partei, Hartmut Semken, zum Rücktritt aufgefordert. Hintergrund ist eine Debatte um den Umgang mit Nazis in den eigenen Reihen.

Daran gibt es Kritik - innerhalb und außerhalb der Partei.

Oliver Höfinghoff, Mitglied des Abgeordnetenhauses, und zwei andere prominente Berliner Piraten, Philip Brechler und Stephan Urbach, haben Landeschef Hartmut Semken in einem offenen Brief zum Rücktritt aufgefordert. "Wir fordern dich auf zurückzutreten und eine LMV [Landesmitgliederversammlung, die Redaktion] einzuberufen, bei der es nur einen TOP gibt: Neuwahl des ersten Vorsitzenden, eventuelle Neuwahl von anderen freigewordenen Posten. Es geht uns nicht darum dich dort öffentlich vorzuführen oder gar Kalif anstelle des Kalifen zu werden, wir versichern dir, wir werden nicht kandidieren."

Hintergrund der Debatte ist ein Text, den Semken vor einigen Tagen auf seinem privaten Blog zur Debatte um den Umgang der Piraten mit Extremisten in den eigenen Reihen veröffentlicht hatte.

Semken hatte unter anderem geschrieben: "Aber ich kann dieses „wir müssen uns abgrenzen gegen Rechte Ansichten“ nicht mehr hören. ... Wenn Du da nicht „alle Rausschmeissen, am besten an den Eiern aufhängen“ twitterst - dann bist Du unmittelbar ein Verharmloser, Relativierer, ja heimlicher Symathisant, der nur den richtigen Faschisten und Nazis den Weg bereiten will, die Piraten zu übernehmen."

Daraufhin hatte es innerhalb der Partei scharfe Kritik daran gegeben, Semken kritisiere die Falschen - nämlich diejenigen, die Rechte bekämpfen wollten, statt die Nazis selbst. In den folgenden Tagen hatte Semken weitere Blog-Einträge veröffentlicht, gesagt, er sei mit seiner ersten Veröffentlichung über das Ziel hinausgeschossen, habe sich aber immer gegen Nazis gestellt und werde das auch weiterhin tun. Die Kritik am Parteichef verstummte dennoch nicht und hat nun mit der öffentlichen Aufforderung zum Rücktritt einen ersten Höhepunkt erreicht.

Der kritisierte Semken hatte in einer ersten Reaktion gesagt, ihn habe keine Mail erreicht. Mittlerweile aber sagt er, das Schreiben sei angekommen, und zwar offensichtlich mit einer Verzögerung aus technischen Gründen. Die Entscheidung über einen möglichen Rücktritt werde er auf keinen Fall jetzt fällen. Er nehme ein deutliches Übergewicht derjenigen wahr, die wollen, dass er auf keinen Fall zurücktritt. Diese würden sich aber teilweise nicht trauen, sich öffentlich zu äußern. Doch solange es dieses Übergewicht gebe, werde er nicht zurücktreten.

Zur inhaltlichen Kritik an seinen Äußerungen sagt Semken, er verachte die Nazi-Ideologie, nicht aber die Menschen, die diese verbreiteten. "Diese Unterscheidung verlange ich auch von den Piraten, und das macht offenbar im Moment Probleme."

Martin Delius fordert klare Worte von Semken

Martin Delius, parlamentarischer Geschäftsführer der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin, hält die Äußerungen von Semken für "extrem fragwürdig". Relativierende Äußerungen bei diesem Thema seien "völlig falsch und kontraproduktiv", sagte er dem Tagesspiegel. "Ich kann die Bestrebungen, die zum Ziel haben, den Fall zu klären und auch vor Rücktrittsforderungen nicht zurückschrecken, sehr gut nachvollziehen." Delius wäre es am liebsten, wenn Semken in einen konstruktiven Dialog träte und die Sache nicht weiter eskalieren würde. "Aber klar: Semken muss sich bewegen". Delius sagt weiter: "Wir müssen mit diesem Thema offen und ehrlich umgehen." Auch vom Bundesvorsitzenden Sebastian Nerz wünscht er sich klar Worte. "Wir müssen alle als Piratenpartei zwei Dinge klar sagen: Dass wir eine Partei sind, in der rechtsextreme Tendenzen keinen Platz haben und auch, dass wir zurzeit ein Problem damit haben."

Auch außerhalb der Piratenpartei gibt es Kritik am Umgang mit rechtsextremen Äußerungen.

Bundestagsvizepräsident Wolfang Thierse  (SPD) sieht in den Auseinandersetzungen um rechtsradikale Sprüche von Piraten-Mitgliedern einen Test für die Entwicklung der neuen Partei. Thierse sagte dem Tagesspiegel mit Blick auf den Fall des rheinland-pfälzischen Mitglieds Bodo Thiesen, das trotz
umstrittener Äußerungen zum Holocaust nicht aus der Piratenpartei ausgeschlossen worden war: "Dieser Vorgang ist ein Testfall darauf, wie inhaltsleer und unverbindlich die Piraten bleiben wollen oder ob sie die Kraft finden, Profil zu zeigen, also sich an den Seiten eindeutig inhaltlich abzugrenzen, gegen Rechtsextremismus und Linksextremismus." Die sächsische Grünen-Bundestagsabgeordnete Monika Lazar, Rechtsextremismus-Expertin ihrer Fraktion, meinte, die Piraten würden sich vom demokratischen Grundkonsens abwenden, "wenn sie keine klare Absage an Rechtsextremismus und Geschichtsrevisionismus hinbekommen". Sie sagte dem "Tagesspiegel": "Mit ihrer Grauzonentaktik fischen sie am ,rechten Rand' und fördern so rechtspopulistische und menschenverachtende Haltungen. Ich fordere Parteichef Sebastian Nerz auf, intensiver gegen solche geschichtsvergessenen Mitglieder vorzugehen."

Im Piraten-Wiki, einer wichtigen Informationsplattform der Partei, ist mittlerweile ein Schreiben aufgetaucht, in dem Semken Unterstützung ausgesprochen wird. "Wir fordern dich, Hartmut auf nicht zurückzutreten und keine LMV einzuberufen, weil ein paar notorisch unzufriedene Nörgel der Meinung sind dich absetzten zu wollen. Es geht ihnen lediglich darum dich dort öffentlich vorzuführen und gar einen für sie passenden Kalif anstelle des Kalifen einzusetzten, wir versichern dir, wenn nicht sie selbst, werden Sockenpuppen anstelle ihrer kandidieren." Das Schreiben ist bisher von niemandem namentlich unterzeichnet. Allerdings schreibt Christiane Schinkel, stellvertretende Vorsitzende des Landesverbands, an Semkens Adresse gerichtet: "Ich stehe hinter Dir, auch wenn ich nicht hinter dem Blogpost stehe."

Quelle: www.tagesspiegel.de