Wer entscheidet in Sachsen eigentlich, was eine grobe Störung ist und was nicht?

Pressebericht, Leipziger Internet Zeitung, 06.03.2016

Der Immunitätsausschuss des Sächsischen Landtags und das heikle Versammlungsrecht in Sachsen - Was dürfen Politikerinnen und Politiker eigentlich öffentlich sagen, wenn sie zu Gegenprotesten aufrufen?

In der vergangenen Woche hat der Immunitätsausschuss des Sächsischen Landtages mehrheitlich entschieden, die Aufhebung der Immunität der linken Angeordneten Juliane Nagel zu empfehlen. Nur eine Partei fand das prima und verkündete das am Freitag, 4. März, mit entsprechendem Aplomb, die AfD: „Wir begrüßen die Aufhebung der Immunität. Frau Nagel hat nicht das erste Mal aus unserer Sicht eine eigentümliche Auffassung von Recht und Gesetz.“

Das war dem Pressesprecher der Leipziger AfD, Ralf Nahlob, dann noch nicht genug. Er setzte noch was drauf: „Der Aufruf zum Boykott der Versammlungsfreiheit muss aufgearbeitet werden und ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft ist mehr als gerechtfertigt. Damals sagte Juliane Nagel bei einer Pressekonferenz, worum es beim bürgerschaftlichen Bündnis ‚Leipzig nimmt Platz‘ eigentlich geht: Man sollte verhindern, dass LEGIDA laufen kann.“ Und dann unterstellte er gleich mal, was überhaupt nicht zur Debatte steht: „Nur weil mir die Argumente der Gegenseite nicht passen, kann ich nicht das Recht auf Versammlungsfreiheit ignorieren. Jeder muss sich an die Gesetze halten!“

Geäußert hat Juliane Nagel sehr wohl, dass man Legida nicht laufen lassen wolle. Das ist ja Wesenskern von „Leipzig nimmt Platz“. Denn alle Erfahrungen mit rechten und rechtsextremistischen Demonstrationen in Leipzig haben gezeigt: Wenn man die Feinde der Demokratie immer nur laufen lässt, kommen sie immer wieder. Dann besetzen sie – wie in Dresden bis 2011 immer wieder erlebt – öffentliche Plätze und Erinnerungsdaten. Dann tun sie so, als wären sie „das Volk“ und hätten auch keinen spürbaren Widerstand. Ganz ähnlich benehmen sich seit über einem Jahr PEGIDA und LEGIDA.

Es ist nicht nur die Staatsanwaltschaft Leipzig, die im Januar 2015 der Meinung war, mit einer angekündigten (friedlichen) Blockade eines LEGIDA-Umzugs wäre das Recht auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit überschritten. Nur zur Erinnerung: Auch angemeldete Gegen-Demonstranten haben dieselben Rechte wie die Demonstranten, die zuerst angemeldet haben. Sie haben sogar das Recht, sich in Sicht- und Hörweite der Erstanmelder zu artikulieren. Denn auch das gehört zur Meinungsfreiheit, wurde aber durch die Bekanntmachungen des Leipziger Ordnungsamtes und die strenge Abschottungspolitik der Leipziger Polizei im vergangenen Jahr praktisch unmöglich gemacht.

Gegenprotest auf Distanz gebracht

„Leipzig nimmt Platz“ konnte die diversen LEGIDA-Umzüge kein einziges Mal blockieren. Die Polizei räumte die Demonstrationsorte von LEGIDA jedes Mal weiträumig frei – auch mit dem Risiko, die ganze Innenstadt für den Verkehr unpassierbar zu machen. Dass Ordnungsamt und Polizei in dieser Taktik weit übers Ziel hinausgeschossen sind, wurde ja in den letzten Tagen in einer öffentlichen Leipziger Debatte ziemlich deutlich.

Und die Frage war natürlich auch: Gehörte eigentlich der Vorstoß der Staatsanwaltschaft – insbesondere gegen die grüne Bundestagsabgeordnete Monika Lazar und die linke Landtagsabgeordnete Juliane Nagel seinerzeit ebenfalls zu diesem Konzept, den Gegenprotest möglichst zu unterbinden? Waren die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen die beiden Politikerinnen, die sich bei einer Pressekonferenz von „Leipzig nimmt Platz“ geäußert hatten, berechtigt?

Dazu kommen wir noch. Denn die Frage ist berechtigt.

Der Immunitätsausschuss des Bundestages hat die Leipziger Staatsanwaltschaft extra eingeladen, um sich den Fall erklären zu lassen. Im Nachhinein stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen „grober Störung von Versammlungen“ ein, die Immunität wurde nicht aufgehoben. Eine „grobe Störung“ lag ja nun wirklich nicht vor.

Oder doch?

Immerhin sind wir hier in Sachsen.

Die Frage blieb: Was dürfen Politikerinnen und Politiker eigentlich öffentlich sagen, wenn sie zu Gegenprotesten aufrufen?

Nur die reine Geschäftsordnung: Der Immunitätsausschuss des Sächsischen Landtages

Der Immunitätsausschuss des Sächsischen Landtages hat darauf verzichtet, die Staatsanwaltschaft einzuladen. Er hat auch nicht versucht, die Frage zu klären, ob die Aussagen von Juliane Nagel durch Meinungs- und Demonstrationsfreiheit gedeckt sind.

Nach der Sitzung sagte Juliane Nagel selbst: „Wir sehen einem möglichen Gerichtsverfahren mit großer Gelassenheit entgegen und gehen davon aus, dass sich der Anklagevorwurf als haltlos erweisen wird. Das Handeln der Abgeordneten ist gerade in dieser Zeit in Sachsen als das anzusehen, was man als sozialadäquat bezeichnet.“

Denn natürlich spielt auch hier immer mit: Wie deutlich oder zurückhaltend müssen demokratische Politiker sein, wenn sie – auch auf solchen Pressekonferenzen – deutlich machen wollen, dass demokratische Werte auch etwas mit klaren Haltungen zu tun haben?

Wer sich erinnert: Damals hagelte es gleich einen Berg von Selbstanzeigen, mit denen sich Politiker verschiedenster Parteien mit Monika Lazar und Juliane Nagel solidarisierten. Die Staatsanwaltschaft wies die Selbstanzeigen alle ab.

Bleibt also nur die Frage, ob Juliane Nagel zu weit gegangen ist mit ihrer Forderung, LEGIDA nicht laufen zu lassen. Was ja noch lange nicht das ist, was Ralf Nahlob behauptet: ein „Boykott der Versammlungsfreiheit“. Mal ganz abgesehen davon, was er mit dieser Phrase eigentlich gemeint hat.

Worum ging es also im Immunitätsausschuss des Landtages eigentlich?

Der hat sich stur und augenscheinlich emotionslos an die eigene Geschäftsordnung gehalten, wollte auch kein politisches Zeichen setzen, sondern die Klärung einfach der Justiz überlassen. Wenn die Staatsanwaltschaft Leipzig glaubt, belastbare Indizien zu haben, Juliane Nagel vor Gericht zu bringen, muss sie es zeigen.


Vorbild für das Leipziger Vorgehen: Das Dresdner Oberlandesgericht

In der Geschäftsordnung des Immunitätsausschusses heißt es in solchen Fällen einfach: „Die Entscheidung über Aufrechterhaltung oder Aufhebung der Immunität darf kein Eingriff in ein schwebendes Verfahren sein, bei dem es um die Feststellung von Schuld oder Nichtschuld geht.“

Was in diesem Fall heißt: Der Immunitätsausschuss hat sich nicht angemaßt, Schuld oder Nichtschuld festzustellen.

„Der Landtag als oberstes Staatsorgan hat nur darüber zu befinden, ob sein Interesse an der ungestörten Mitarbeit des betroffenen Landtagsmitglieds gegenüber anderen öffentlichen Belangen, besonders gegenüber dem Interesse an einer gleichmäßigen und gerecht geübten Strafrechtspflege, überwiegt.“

Was ja wohl heißt: Man befürchtet nicht, dass Juliane Nagel durch das Ermittlungsverfahren und einen möglichen Prozess von ihrer Arbeit als Abgeordnete abgehalten wird.

Vielleicht kommt es auch ganz anders und genau so, wie man es so oft erlebt hat in Sachsen in den letzten Jahren: Der Prozess geht aus wie das Hornberger Schießen. Wie beim Jenaer Jugendpfarrer König oder dem SPD-Abgeordneten Karl Nolle. Aber auch andere Abgeordnete von SPD, Linken und Grünen wurden nach diversen Demonstrationen schon vor Gericht zitiert – einige zahlten dann bereitwillig ihre Ordnungsstrafen, andere – wie der heutige Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow – ließen es darauf ankommen und akzeptierten die Entscheidungen sächsischer Richter nicht. Das Ergebnis war dann 2015 ein hörbares Plopp.

Wikipedia: „Im April 2015 stellte die Staatsanwaltschaft Dresden das Verfahren wegen Geringfügigkeit endgültig ein. Die Kosten für Ramelows Anwalt sowie weitere Auslagen im Zusammenhang mit dem Verfahren, um die Ramelow mit dem Gericht noch gestritten hatte, wurden von der Staatskasse übernommen.“

Auch ihm war die Behinderung einer Versammlung im Jahr 2010 bei einer Demonstration der Jungen Landsmannschaft Ostpreußen vorgeworfen worden.

Die Haltung der Leipziger Staatsanwaltschaft hat seinerzeit Oberstaatsanwalt Ricardo Schulz formuliert: „Ein über die bloße Unterzeichnung dieser Erklärung hinausgehender gesonderter Aufruf an Dritte zur Errichtung von Sitzblockaden, um eine andere nach Ort und Zeit bekannte Versammlung zu verhindern (Verhinderungsblockade), kann aber als öffentliche Aufforderung zu Straftaten anzusehen und strafbar sein.“

Mit Betonung auf „kann“. Den Spielraum ausgereizt hatte das Dresdner Oberlandesgericht am 29. September 2014, das befand, Sitzblockaden, die eine genehmigte Versammlung verhindern sollen, seien als strafbar anzusehen. Und die Leipziger Staatsanwaltschaft bezog sich auf dieses Gerichtsurteil, nicht auf den eigentlich zugrunde liegenden § 22 des Sächsischen Versammlungsgesetzes, in  dem es heißt: „Wer in der Absicht, nicht verbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“

Friedliche Blockade = Grobe Störung?


Die Frage lautet also irgendwie: Hat Juliane Nagel Gewalttätigkeiten vorgenommen oder angedroht oder grobe Störungen verursacht, um LEGIDA am Laufen zu hindern?

Und was sind eigentlich grobe Störungen? Wo beginnen sie? Oder definieren das Polizei und Gerichte in Sachsen ganz für sich allein?

Augenscheinlich ja. Und in der Regel oft so, dass sie jede Störung einer Gegendemonstration als „grobe Störung“ werten. Was dann am Ende zu immer größeren und weiteren Absperrräumen führt und immer mehr Kontrolle über den Sprachgebrauch.

Das muss man als Mitglied eines Immunitätsausschusses nicht so sehen.

Könnte man aber, wissend darum, dass die eigentliche Tücke in der – wohl beabsichtigten – Unschärfe des Gesetzes liegt.


[Quelle: www.l-iz.de/...wer-entscheidet-sachsen-eigentlich-eine-grobe-stoerung-ist]