Abschied vom Bundestag - Rede auf der Landesdelegiertenkonferenz am 24.4.2021

Liebe Freundinnen und Freunde,

ich habe mich entschlossen, nach 16 Jahren nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren.

Politik eine Tätigkeit auf Zeit, Perspektivwechsel sind wichtig, es war nicht selbstverständlich, dass ich so lange eure Vertreterin sein konnte.

Ich blicke mit Respekt und Dankbarkeit auf die Zeit im Bundestag zurück. Aber das kam ja nicht von ungefähr.

Da viele noch nicht so lange Mitglieder sind, eine kleine Zeitreise im Zeitraffer:

Das prägendste Superwahljahr war für mich 1990: Frisch nach der Friedlichen Revolution kam die letzte Volkskammerwahl am 18.3.1990. Am Wahlabend sind wir sehr hart auf dem Boden der Realität gelandet.

Dann die Europa- und Kommunalwahlen im Mai, Landtagswahl im September und die Bundestagswahl im Dezember mit getrennten Wahlgebiet Ost/ West und dem Ergebnis, dass die Grünen im Westen raus geflogen sind und im Osten einige aufrechte Bürgerrechtler und Ökobewegte nun im Bundestag saßen!

Die 1990er Jahre waren für uns in Ostdeutschland eine harte Zeit, 1994 flogen wir aus dem sächsischen Landtag, zur Landtagswahl 1999 erhielten wir weniger als 3%, der absolute Tiefpunkt!

Hätte mir damals jmd gesagt, dass ich in 5 Jahren Bundestagsabgeordnete sein werde, hätte ich dem/derjenigen einen „Vogel gezeigt“!

2004 kamen wir knapp wieder in den Landtag und ich als Nachrückerin in den Bundestag!

Das war für mich ein Sprung ins kalte Wasser und ich kam mir wie ein Schulkind vor, das neu an der Schule ist und sich noch nicht auskennt.

Die Stimmung in der damaligen rot-grünen Koalition war in ihrer Endphase auch nicht mehr so toll.

Ich hatte den Eindruck, dass niemand auf mich gewartet hat. Umso dankbarer war ich meinem sächsischen Fraktionskollegen Peter Hettlich, der mir in der Anfangszeit wirklich sehr beim Einleben in Fraktion und Bundestag geholfen hat.

Auch an die vorgezogenen Bundestagswahlen im September 2005 und den Wahlkampf kann ich mich noch gut erinnern, da ich sie ich zum großen Teil auf Krücken verbracht habe, nachdem ich mir beim Fußball die Achillessehne gerissen habe.

Das Wahlergebnis 2005 war bis 2017 immer so, dass wir in Sachsen unter 5% und bundesweit zwischen 8 und 9% bekamen.

Nur im Wahljahr 2009 waren die Ergebnisse mit 6,7% in Sachsen und 10,7% bundesweit besser.

Die Rahmenbedingungen der Arbeit als Bundestagsabgeordnete haben sich in den letzten 16 Jahren ganz schön geändert: die Polarisierung hat stark zugenommen, die „sozialen Medien“ haben für schnelle Reaktionswünsche und gefühlt ständige Erreichbarkeit gesorgt.

Und wenn was Spannendes passiert, will jeder der/ die Erste mit Kommentaren sein, um „medial vorzukommen“.

Seriöse Einschätzungen und Diskussionen werden dadurch immer schwieriger.

In der omnipräsenten Informationsflut wichtiges von unwichtigem zu unterscheiden wird schwerer, das Erregungspotential steigt und die Gefahr von verkürzten oder missverstandenen Debatten auch.

Wichtig ist, dass man sowohl in der eigenen als auch in den anderen demokratischen Fraktionen gute, vertrauensvolle und auch freundschaftliche Kontakte hat, sonst übersteht man die Zeit im Bundestag nicht unbeschadet.

In der Politik braucht man gute Menschenkenntnis und man muss gern mit Menschen umgehen, Lebens- und Berufserfahrung sind von Vorteil, man braucht gute Selbstorganisation, gute physische und psychische Belastbarkeit, ein dickes Fell und sollte nicht alles an sich heran lassen.

Meine Empfehlung ist: menschlich zugewandt, empathisch, inhaltlich klar, souverän, fair, den eigenen Stil finden und bodenständig bleiben.

Ich habe mir immer Mühe gegeben, mich verständlich auszudrücken, nicht in „Politiksprech“ zu verfallen.

Ich finde es wichtig, Gemeinsamkeiten zu finden, unterschiedliche Meinungen auszuhalten und sich nicht gleich rechthaberisch zu empören.

Kompromisse zeichnen eine Demokratie aus, das sollte man in hitzigen Debatten nicht vergessen.

 

Zur politischen Arbeit in Sachsen:

Es war nicht immer leicht mit den Bürgerinnen und Bürgern.

Aber mir war immer wichtig, auch dorthin zu gehen, wo es schwierig ist. Ich nenne hier verschiedene Rentengruppen, die Braunkohleleute, konventionelle Bauernverbände, aber auch Vertreter von IHK und Handwerkskammern. Ich habe versucht, solange es geht im Gespräch zu bleiben.

Mein Ansatz dabei ist: Man muss zuhören können, die eigene Position hinterfragen, nicht denken, alle seien meiner Meinung und auch „die andere Seite“ könnte Recht haben.

Meine Themen in der Bundestagsfraktion waren durchgehend der Themenbereich Rechtsextremismus, zeitweise Frauenpolitik, Sportpolitik, DDR-Aufarbeitung und auch selbsternannte Zuständige zum Thema „Ost-Renten“.

In der Bundestagsfraktion hatte ich auch ab und zu eine Minderheitsmeinung und habe abweichend von der Fraktionsempfehlung abgestimmt: bei so manchem Bundeswehrmandat im Ausland (das war vor 15 Jahren noch nicht ganz so einfach), bei der Rente mit 67 (ich war dagegen), Rente mit 63 (ich war dafür) und ich war die Einzige, die vor 1,5 Jahren für die Masernschutzimpfung als Voraussetzung für Kita und Schule war.

Aus heutiger Sicht finde ich es interessant, wie sich unsere Sicht auf das Impfen durch Corona geändert hat. Das gilt auch für die Bundestagsfraktion.

 

Die angebotenen Perspektivwechsel habe ich gern wahrgenommen: So war ich regelmäßig für einen „Schnuppertag“ an der Leipziger Uniklinik, in verschiedenen Pflege- und Wohlfahrtseinrichtungen und konnte so Praxiseinblicke erhalten wie im Pflegeheim für Alkoholkranke, Notaufnahme, Intensivstation, Kreißsaal u.a.

Weitere Anekdoten:

10 Jahre Landesparteirat: gemeinsame Zugfahrten: Junggesellenabschied und Frauenreisegruppe mit Sekt und Hackepeterbrötchen früh 8 Uhr im Regionalexpress

2005 wo ich im Wermsdorf auf Schloss Hubertusburg einen Karpfen gewonnen habe.

2010 Buchlesung im Winter Annaberg-Buchholz: viel Schnee, kaum Gäste deswegen, ich froh, als Zug zurück kam und ich den letzten Anschlusszug in Chemnitz bekam

2014 Besuch bei Amazon Leipzig mit Fraktionskollegin Beate Müller-Gemmeke: Schock nach der Betriebsführung und den gefügigen Betriebsrat

2014 Aktion „Nachtaktiv“ DGB Leipzig: Besuch bei NachtarbeiterInnen bei Bahn, Stadtwerke, Verkehrsbetriebe, Kraftwerk Lippendorf

2017 Diskussion mit dem Kreisbauernverband Nordsachsen, wo ich kaum zu Wort kam, weil sofort protestiert wurde

2019 „Sachsen-Sofa“ Kitzscher (bei Borna) u.a.m. Norbert Lammert und vielen unzufriedenen Bürgern

2019 Nachtschicht bei Bundespolizei Pirna auf der Autobahn

2020 Massenemails im November von Querdenker und Abstimmung im Bundestag unter „Belagerung“ draußen und drinnen.

Unzählige Anti-Rechts-Demos in Sachsen: Dresden rund um den 14. Februar, Leipzig, Chemnitz, Riesa, Plauen, Bautzen…

Die verschiedenen Demos haben mir wie allen Engagierten die Wochenendplanung bestimmt.

Einige Vereine, wie die Aktion Zivilcourage in Pirna und das Netzwerk Demokratische Kultur in Wurzen, die ich seit vielen Jahren begleite und unterstütze, sind heute wichtige Ansprechpartner in ihren Regionen und arbeiten mit mehreren MitarbeiterInnen in verschiedenen Projekten.

Das zeigt die gute Entwicklung und war 2005 bei meinem ersten Besuch bei ihnen noch unvorstellbar!

Diese Wahlperiode war in mehrerer Hinsicht besonders herausfordernd:

Die AfD zog in den Bundestag ein und ist in jeglicher Hinsicht eine Zumutung: Der Ton im Bundestag wurde rauer und es gibt Reden, die man sich vorher nicht hätte vorstellen können.

Die Sondierungen mit Union und FDP, die platzten, bis die Koalition zustande kam, beschäftigte sich die SPD mit sich selber, ob sie regieren will oder nicht.

Dann brachte Seehofer die Fraktion von CDU und CSU an den Abgrund mit seiner Forderung nach einer „Obergrenze“, die danach nie wieder irgendeine Rolle gespielt hat.

Dann verlor die CDU Wahlen, Merkel trat als Parteivorsitzende zurück und es kamen politisch „Untote“ wie Merz wieder aus der Verdeckung.

Dann drehte die SPD wieder frei, Nahles schmeißt als Vorsitzende hin und sucht und findet neue.

Ende 2019 beruhigt sich die politische Lage etwas. Dann kommt Anfang 2020 Corona und seitdem ist nicht nur im Bundestag vieles anders…

Die Arbeit im Bundestag war jedenfalls nicht langweilig, es war und ist noch spannend, interessant, vielseitig, es gab Höhen und Tiefen und ich habe wirklich viel dazu gelernt.

Mit Dankbarkeit und Demut blicke ich auf die Zeit im Bundestag zurück.

Ich möchte allen danken, die mich in all den Jahren begleitet haben, hier im Landesverband, aber vor allem meine MitarbeiterInnen in Berlin und hier in Sachsen, denn ohne diese Personen hätte ich das alles gar nicht geschafft.

 

Zu unserem Landesverband:

Wir stehen so gut da, wie noch nie in den letzten 30 Jahren seit unserer Gründung.

Als ich in den Bundestag einzog hatten wir Anfang 2005 knapp 950 Mitglieder und jetzt 3.000!

Noch nie hatten wir eine so gute Ausgangsgrundlage für ein erfolgreiches Wahlergebnis wie in diesem Jahr!

Aber: Wir dürfen nicht zu selbstsicher sein, der Bundestagswahlkampf wird hart werden, denn alle werden gegen uns sein.

Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge:

Lachend: Ich muss im Wahlkampf nicht mehr in vorderster Reihe dabei sein, verbunden mit all dem Stress.

Weinend: Es war eine lange und spannende Zeit, nun geht ein Abschnitt für mich zu Ende.

Bündnis 90/ Die Grünen haben in den letzten Jahren vieles richtig gemacht, wir sind dadurch bestens aufgestellt und ich hoffe, es bleibt so.

Wir haben somit beste Grundlagen für ein super Wahlergebnis im September zur Bundestagswahl.

Für mich ein guter Zeitpunkt, den Staffelstab weiter zu geben.

Ich wünsche all denen, die heute auf der Landesliste gewählt werden, viel Freude und Erfolg!

Selbstverständlich unterstütze ich euch in den nächsten Monaten im Wahlkampf sehr gern.

Und zum Schluss nochmal ein dickes Dankeschön!!!